Das Buch Ahn

Die Geschichte einer Krugsdorfer Familie

 

Unter Benutzung von alten Papieren und volklichem Brauchtum unseres Kreises erzählt von  P a u l   F i l t e r

Das Buch Ahn

 

Der Weg

 

Wir wollen einen Ausflug in die Vergangenheit tun.

In der südöstlichen Ecke des Kreises Ueckermünde, halbwegs zwischen dem Dorfe Zerren-thin (das indessen schon der Uckermark angehört) und dem Dorfe liegt ein größe-rer Bauernhof, ein alter Erbsitz der Familie Thiede.

 

Hart an den Gebäuden vorbei  fließt der Grenzgraben der brandenburgisch-pommerschen Scheide. Das Gehöft liegt noch im Schoße Pommerns, indessen die dazu gehörenden Äcker im Kreise Prenzlau liegen. Der Graben trennt auch den Weg, der die Dörfer Zerrenthin und verbindet, recht augenfällig: Von Zerrenthin bis hier an den Bauernhof säumen ihn Weidenbäume; das jahrzehntealte Pflaster ist ausgefahren und holprig, und manchmal stehen kleine Vertiefungen darin, halsbrecherische Versuchungen für die Radfahrer. Kurz vor dem Grenzgraben aber wird der Weg besser, ein Stückchen von ihm ist noch im Sommer 1934 und 1935 neu gepflastert worden. Jetzt stehen zu beiden Seiten Kirschbäume, Äpfel- und Birn-bäume, deren Nutzung alljährlich vom Kreise Ueckermünde verpachtet wird.

 

Wir müssen den alten Weidenweg gehen, wenn wir, von der Bahnstation Zerrenthin kom-mend, zu dem Hofe der Familie Thiede gelangen wollen. Der Weg zwingt uns, sich ein wenig eingehender mit ihm zu beschäftigen, als man sonst tut, wenn man glatte Landstraßen begeht. Glatte Landstraßen bringt man rasch hinter sich, aber dieser Weg macht mit uns, was er will. Es hat in den letzten Tagen tüchtig geregnet. Es ist Herbst. Von den Gütern der Umgebung fährt Wagen auf Wagen mit Zuckerrüben und Kartoffeln nach der Bahnstation Zerrenthin; die Wagen wühlen den Matsch hundertmal am Tage um und um. Die Wagenrinnen glänzen voll trübem Wasser, die Trichterpfützchen blicken uns höhnisch an. Richtige Abflussgräben zur Seite gibt es nicht, das Regenwasser bleibt auf dem Wege stehen; auf dem Sommerwege stehen hier und da ganze Teiche. Wir wissen manchmal kaum, wohin wir treten sollen. Jeder Schritt ist eine kleine Arbeit; denn der Schmutz saugt an unseren Schuhsohlen und das Wasser gurgelt und spritzt, – es hilft nichts, unsere blanken Stadtschuhe starren bald vor Schmutz. Aber es schadet nichts, wer in die Vergangenheit wandern will, muss auch müh-selige  Wege gehen können und Schuhe lassen sich ja wieder putzen.

 

Ja, der Weg ist alt, er ist älter als ein Mensch lebt, und wenn er auch das biblische Alter erreichte; die Weidenbäume stehen schon so lange da, als alte Leute denken können. Nicht immer schon war der Weg ein Damm und im Herbste war kein Unterschied zwischen ihm und einem gewöhnlichen Feldweg. Ja, die Bäume sind alt, sie haben ein langes Leben hinter sich und haben viel überstanden wie ein Mensch. Sie sind ausgemergelt von der Zeit, ihre Stämme sind rissig, schwarzgrau, geschunden.

 

Das morsche faule Fleisch starrt aus der Borkenhaut. Abends leuchtet manchmal das faule Holz; es sind leidenschaftliche Bäume, sie entzünden sich selbst. Die meisten Stämme sind vom Blitz gespalten und von Feuern ausgehöhlt, ganz schwarz sehen die Höhlen aus, in  manchen nisten die Eulen und Käuzchen, in manchen haben Feldmäuse ihre Kinderstube; der Wind denkt, es sind große Schalmeien und er pfeift hinein wie ein Hütejunge in seine Flöte. Es sind Kopfweiden, Bäume ohne Kronen; wie kann man so leben? Es ist ein Wunder! Manche Stämme sind bloß noch halb, die andere Hälfte fehlt; es sind Leiber, die glatt durch-geteilt sind, es sind Skelette. Wie kann man so leben? Aber sie leben! Inwendig verborgen flutet noch ein Quellchen Saft und Kraft durch die faulen Leiber und auf den skalpierten Köpfen treiben Büsche Zweige und winken im Wind und bilden braune Knöspchen im Frühling und fächeln grüne Blätter im Sommer und lächeln im Herbst einen Silberglanz und Goldrausch und sind die letzten, die einschlafen zum Winterschlummer. Ja, es ist ein Wunder! Zweimal biegt der Weg, bevor er die Grenze überschreitet. Die erste Krümmung heißt im Munde der Leute einfach: „De Uemschwang“. Die andere Biegung nannten unsere Großväter und Väter „Bi de veer Widen“, weil dort früher vier Weidenbäume gestanden haben. Später standen bloß noch zwei dort und nun sagten die Leute zu der Stelle „Bi de twe Widen“. Jetzt aber steht da bloß noch eine Weide, und vielleicht wird man einmal den Ausdruck prägen:  „Bi de Wid“. Vielleicht wird dann der letzte der einstigen vier Bäume gar nicht mehr stehen. Noch aber heißt diese Krümmung des Weges:  „Bi de twe Widen“. Der Feldweg, der von hier aus zu den Wiesen hinabführt, ist mit viel Schlehdornstrauchwerk zu beiden Seiten ein Nach-tigallenparadies; im Mai und Juni kann man sie hier des nachts flöten hören. Der jetzige Besitzer des Thiedeschen Bauernhofes rodete die Sträucher nicht aus, obwohl sie auf seinem Grund und Boden stehen und Platz gemacht hätten für ein paar Pflugschollen; das ist ein Glück für die Nachtigallen – und auch für uns.

 

Wir gehen über den Grenzgraben. Gleich biegt der kurze Weg auf den Bauernhof ab. – Wir sind auf dem Wege der Vergangenheit geschritten. Die verschiedenen Geschlechter der Familie Thiede sind auf ihm gegangen. Er gehört zu ihrer Geschichte.

 

 

Die hölzerne Zahl

 

Wir gehen über den Stein, der als Tritt vor der Haustür liegt. Es ist ein Mühlenstein. Warum er hier liegt, werden wir später noch erfahren. Vom Flur des Hauses steigen wir die Treppe empor zu dem Bodenraum. Alles ist alt. Die morschen Holzstufen knarren unter unseren vorsichtigen Tritten. Eine muffige Luft dringt uns entgegen. Gerümpel erzählt von einer verschollenen Zeit. Ein paar Spinde aus dem vorigen Jahrhundert stehen herum. Eine Zeit hat aufgehört zu sein, ist unwichtig geworden. Aber das eine ist rührend: Die alte Truhe, in der die Großmutter einmal die Wäsche verwahrte! Eichenholz trotzte dem Zahn der Zeit; eiserne Beschläge zeugen von einer handschmiedenen Kunst; immer noch lebt der Gedanke des Meisters in den Formen der alten Truhe. Ein stilles Bodenzimmerchen blickt nach Norden aus. Darüber schwebt noch einmal ein Bodenraum, erst dann stoßen unsere Köpfe an das Dach. Und hier liegt das Dokument des Hausalters: ein Stückchen Balken. Es ist der obere Rahmen an der Haustür gewesen. Der Balken wurmstichig und zersplissen, ist voller Narben und Scharten. Aus einer seiner Flächen buchstabieren und entziffern wir mühselig eine hand-geschnitzte Zeile heraus:

 

CHR.  H.  TH.   1821

 

In jenem Jahre ist das Haus gebaut worden. Die Zeit steht still. Alles ist vorüber. In den Schattenwinkeln hockten todlos die vergangenen Jahre. Noch einmal bildern sie auf in uns… ich sollte ein Haus bauen, hören wir die gestorbene Stimme sprechen, denn ich möchte nicht immer unstet sein. Ich fällte Bäume im Walde und fachwerkte sie als Rückgrat und Gerippe. Ich nahm Erde und formte sie zu Stein. Ich nahm Wasser und Kalk und fügte die Steine an-einander. Dann kam der Wind, schöpfte vom Sonnenlicht und von den Schatten der Nacht und hauchte dem Hause lebendige Seele ein. Ich formte den Wind zu Glas und stellte es in die Wände,  um die Ferne zu verbinden mit dem Hier, das Fließende mit dem Ruhenden, die Welle mit der Gestalt. So ist das Haus aus dem Blute der Landschaft geboren, und es war meine Heimat … So sprach die gestorbene Stimme aus den Schattenwinkeln.

 

 

Die Geschichte einer Krugsdorfer Familie       (erzählt von Paul Filter)

 

Auf alten Spuren

 

Die Stürme des dreißigjährigen Krieges berserkten und wüsteten durch die unglücklichen deutschen Landschaften und verwehten viele, viele Dokumente und Kirchenbücher, nie wieder sind solche dann aufgefunden worden, sie waren meist verbrannt, zerrissen oder verschleppt worden. Haben manche späte Enkel mit Lust und Glück versucht, das Dunkel ihrer Familiengeschichte bis dorthin rückwärts zu haben, kaum sichtbaren Spuren nachge-hend, bis Stück für Stück Weges, auf dem die Ahnen gegangen, endlich mühsam erlichtet dalagen, so tritt hier plötzlich aller Schau und allen Tritten, fast ohne vorhergehende Däm- merung, tiefe, morgenlos dunkle Nacht entgegen -, es ist plötzlich aus, es geht nicht mehr weiter; und in entsagungsvoller Stimmung müssen auch die eifrigst suchenden Forscherenkel das Pürschen nach ihrem Woher aufgeben -, alles ist dunkel und unbestimmt geworden, keine Papiere finden sich mehr; die unbestimmten Anhaltspunkte, die mich aus der Vergleichung des Familiennamens mit Dorf- oder Landschaftsnamen ergeben, gewähren keine rechte Befriedigung, wie jeder glauben wird -, die private Forschung hört auf, die allgemeine wissenschaftliche Arbeit beginnt.

 

Die Thiedes sind ein altes Handwerker- und Bauerngeschlecht. An ihrer Entwicklung und ihren Wandlungen ist so recht zu ersehen, wie Handwerkerstand und Bauernstand  innig und unlösbar zusammen gehören. Seit hundert und sechzehn Jahren sitzt das Geschlecht auf seinem Hof in Kreis Ueckermünde. Bis um das Jahr 1890 herum mahlte eine Mühle das Korn für die umliegenden Dörfer. Es war eine Bockwindmühle. Der letzte, noch lebende Besitzer mahlte bis 1917, aber nur noch für seinen eigenen Bedarf, riss dann die Mühle ab und wandte sich ganz der Landwirtschaft zu. So hatte sich im Laufe eines Jahr-hunderts aus einem Müllergeschlecht ein Bauerngeschlecht entwickelt und heute ist der Hof ein Erbhof des Dritten Reiches.

 

Im Jahre 1819 war der Ur-Urgroßvater Christian Heinrich Thiede in eingewandert und 1827 dort verstorben. Von seinem Grabstein und von seinem Totenschein war auch das Geburtsdatum abzulesen, aber seltsamer Weise meldeten weder das Coblentzer Kirchenbuch, noch sonstige alte Ankaufsverträge oder Grundbücher, oder Gerichtsakten, oder Müller-Innungspapiere von seiner Herkunft; teilweise waren die alten Akten und Dokumente nicht mehr aufzufinden. Es ergab sich nun die Schwierigkeit des Forschens nach seinem Herkom-men. Zuerst schien es, als sei überhaupt keine Spur aufzufinden. Über zehn Jahre ist nach

 

Christians Heinrichs Herkommen oder Geburtsort gesucht worden, oft mit gelinder Verzweif-lung. Die Behörden öffneten meist nur widerwillig, manchmal gar nicht ihre Bücher; erst durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus ist es dem Familienforscher leichter gemacht und er erhält Einsicht in jedes Archiv, von dem er meint, dass es ihm Spuren geben könne. Zwei Jahre nach der nationalsozialistischen Revolution war dann auch endlich der Ort gefunden, von dem der Ur-Urgroßvater nach ausgewandert ist, es ist das Dorf Fürstenwerder bei Strasburg (Uckermark). Es wird nun möglich sein, den Ahnen von dort aus bis zum dreißigjährigen Krieg nachzugehen.

 

Es taten sich drei Thiedes zusammen, ein Hamburger, ein Stettiner und ein Krugsdorfer. Sie waren untereinander weitläufig, aber in gerader Linie verwandt, verschiedene Zweige eines gemeinsamen Stammes, die nach der Wurzel suchten. Das heimische Kirchenbuch gab nur das Geburtsdatum des Ur-Urgroßvaters an. Innungspapiere aus jener Zeit waren nicht mehr vorhanden. Die Sitzungsbücher oder Wahlakten der Stadt aus der Zeit von 1770 bis 1790 fehlten. Was nun? Wo sollte man einen Anhaltspunkt finden? Da kam der Hamburger Thiede auf den richtigen Gedanken, dass die Familie  vielleicht von Westen nach Osten herübergekommen sei und man das nächste größere westlich von gelegene Archiv durchsuchen müsse. Er fuhr also nach Schwerin und fand dort tatsächlich eine sehr umfang-reiche Sammlung über die Familie Thiede. Es fanden sich Spuren, die nach Waren in Mecklenburg gehen – doch war der gesuchte Ur-Urgroßvater Christian Heinrich dort nicht aufzufinden. Eine andere Spur aber führte nach Groß- und  Klein-Luckow. Zwar waren auch hier die Nachforschungen wieder vergebens, doch möchte ich den Brief hier wiedergeben, den der Hamburger Thiede an seine Mitforschenden schrieb, weil er gute Aufschlüsse gibt über den Namen Thiede an sich und auch über die Schreibweise der damaligen Kirchenbücher und über sonstige kulturhistorische Dinge:

 

„Ich war gestern im staatlichen Archiv in Schwerin und habe die dort aufbewahrten Kirchenbücher von Groß- und Klein-Luckow eingesehen. Luckow gehörte um 1800 zur Pfarre Kirchhagen oder Grubenhagen oder Kirchgrubenhagen. Das wird in den Kirchen-büchern, die seit 1750 dort in Abschriften vorliegen, verschieden bezeugt. In den ältesten Aufzeichnungen, die sehr schwer lesbar sind und scheinbar in größeren Zeitabständen nach-getragen wurden, traf ich gestern auf den ersten Seiten häufiger auf den Namen Tied, der in späteren Jahrzehnten auch als Tiete, Tiede und Tiedke bezeugt wird. Die Endung „ke“ am Schlusse des Namens scheint mir ähnlich wie bei den Namen in Schleswig-Holstein üblich gewesen zu sein, um zu Zeiten, als Vornamen noch nicht eingeführt waren, die Nachkommen zu bezeichnen. So hießen die Söhne der Tiet’s Tietkes, bis sie entweder diesen Namen auf-gaben, oder den Namen des Schwiegervaters annahmen, wenn dieser gestorben war. Um 1750 waren die Vornamen der Tiet’s diese: Lewin, Joachim, Christoffer, Volkrath, Jakob, Heinrich, später Christian oder Christoph, noch später Karl, Wilhelm. Sehr früh bezeugt ist auch der Vorname Eilhard (Ehlers) und Ehrenreich. Die weiblichen Vornamen waren um 1750 diese und andere: Gret, Lies Fieken, die später die Taufnamen Margarete, Elisabeth, Christina, Sophie erhielten und so gewissermaßen veredelt wurden. Merkwürdig sind die Wortlaute einzelner Eintragungen: Gestorben ist die alte Tietensch vom Krebssee, oder: Gestorben ist 1751 Lewin Tietens Kind aus Barts; 27.3.1759 die ole Tiete vom Krebssee; 6.8.1768 die alte Tietsche von de Pore; 1772 die alte Tietsche vom großen Bauhof. Der Anschluss an den am 5.9.1827 zu verstorbenen Christian Heinrich Thiede ist damit noch nicht gefunden, doch scheinen wir in der richtigen Gegend zu sein. In dieses Gewirr von Linien muss nun Ordnung gebracht werden. Auch wird sich womöglich noch einiges ergeben, wenn man die alten Chroniken über die genannten Dörfer wälzt. Zur Zeit stehe ich mit einem Archiv in Braunschweig bzw. Wolfenbüttel in Unterhandlung, um über die Entstehung des Dorfes Thiede bei Braunschweig zu erfahren.“

 

Ein sehr rühriger Forscher, wie wir sehen, aber vom Pech verfolgt, konnte doch auch nach eingehendstem Forschen aus diesem Gewirr von Linien keine herausfinden, die nach führt. Aber er und wir haben die Freude, vieles über die Entstehung und Ent-wicklung von Familiennamen erfahren zu haben, über die Sprache der Kirchenbücher in jener Zeit usw.

 

Das braunschweigische Landesarchiv teilte mit: Thiede war ein Pfarrdorf im Leregau. Der Name wird zuerst im Jahre 1007 als Thidi, dann 1191 und 1296 als Tidhe oder Thide und 1369 als Tide urkundlich genannt. Über die Bedeutung des Namens kann nur derjenige mit einiger Zuverlässigkeit Auskunft geben, der sich mit der Entstehung alter Namen besonders beschäftigt hat.

 

Das war sogar ein kulturhistorischer Fund während der mühseligen Forschung. Es wurden weitere Betrachtungen über den Namen Thiede angestellt: Früher hatte jedermann nur einen Rufnamen; ganz allmählich haben sich die ersten Familiennamen gebildet, von denen wie-derum später zweite und dritte Abweichungen entstanden; bis endlich die heutige Schreib-weise bestehen blieb. In der Bezeichnung Thiede steckt das Wort Volk; diot, thinds heißt Volk; diurick = volkstümlich, völkisch und schließlich deutsch; ein Wort, das prachtvoll die Zusammengehörigkeit aller Volksgenossen klar ausdrückt. Davon ist abgeleitet: Dierrich, der im Volk Herrschende, der Führer, von dem sich wieder diese Wortgebilde formten: Diez, Dietze, Tietz, Dietschke, Dütschke, Tieck, Dietel, Thiel, Tiedge, Thiede.

 

Das sind noch längst nicht alle Beispiele, wie nach jenem Ur-Urgroßvater Christian Heinrich Thiede gepürscht wurde. Nachdem die Spur in Mecklenburg nicht mehr in Frage kam, wandte man sich an das Luckow bei Vogelsang im Kreise Ueckermünde, ohne indessen Glück zu haben, auch hier war kein Christian Heinrich Thiede geboren, oder hatte hier gewohnt. Es würde zu weit gehen, wenn alle Methoden hier aufgeführt würden, nur soviel sei gesagt, dass endlich der Zufall, der auch in diesem Falle wieder das Wunder war, endlich, endlich auf die richtige Spur führte, nachdem man das Forschen eigentlich schon aufgegeben hatte. Es möge hieraus gesehen und gelernt werden, dass man, wenn man Familienforschung treibt, und das sollte heute jeder tun, unbedingt etwa bis zum 30-jährigen Kriege zurückkommt, mitunter noch weiter zurück; es wird bei jeder Forschung einen Punkt geben, von dem aus es scheinbar nicht weitergehen mag, gewöhnlich erfolgt von dort aus der große Sprung in eine andere Gegend; aber jeder sollte sicher sein, dass es möglich ist, auch dem Sprunge nachzugehen; dem Interessenten sind die Archive heute derart weitgehend geöffnet und so eingehend auf Namen, Innungen usw. geordnet, oft unter geradezu mühsamer Arbeit, dass es dem Forschen-den unendlich erleichtert ist, seinen Ahnen nachzuspüren. Es ist höchst interessant dabei, wie man bei solchem Forschen mit den Sitten und Gebräuchen der deutschen Landschaften bekannt wird.

 

Ganz durch Zufall wurde der Konfirmationsschein des Gesuchten gefunden, der klipp und klar besagte, dass dieser in Fürstenwerder geboren worden war. Die Nachsuche in dem dortigen Kirchenbuch schloss den Beweis. Der Vater des Gesuchten war in Luckow in Mecklenburg Glasmacher gewesen und dann nach Fürstenwerder ausgewandert, wo er dem Sohn eine Mühle kaufte, weil dieser Müller gelernt hatte. Auf welchen Grund hin Christian

 

der Gesuchte nach Krugsdorf auswanderte, ist nicht mehr zu erfahren. Der Weg des Ge-schlechts der Thiede geht von Westen nach Osten, langsam, im Wandel der Jahrhunderte. Sie sind, bevor sie Müller und hernach Bauern wurden, Glasmacher gewesen und scheinen aus Thüringen oder Westfalen herübergekommen zu sein.

 

 

Müller Christian, Mühle und Wind

 

Die Geschichte der Mühle

 

In den Grundakten des Amtsgerichts zu steht die Geschichte der Mühle, die Christian Heinrich Thiede nach seiner Einwanderung in Krugsdorf im Jahre 1819 kaufte. Sie gehörte ursprünglich zu dem Lehen der gräflichen Familie von Eickstädt-Peterswalde, wurde dann, wohl zu Beginn des 18. Jahrhunderts, verkauft, dann aber wieder von der Familie von Eickstädt zurückerworben. 1765 wurde sie vom Oberhofmeister Graf von Eickstädt an den Mühlenmeister Joachim Diesing verkauft; von diesem an Johann Hahn 1771; von diesem an Samuel Pieper 1784; von diesem an Friedrich Babiger 1787; von diesem an Johann Chrisian Kühl 1788; von diesem an Christian Wischow 1795; von diesem endlich an Christian Hein-rich Thiede am 20. Januar 1819. Er kaufte die Mühle für 4600 Thaler. 600 Thaler zahlte er sofort an, der Rest wurde bei der Übergabe, die im Frühjahr desselben Jahres erfolgte, be-glichen. Die Mühle wird im Kaufvertrag als eine Bockwindmühle bezeichnet.

 

 

Christian, der Wanderer

 

Christian Heinrich Thiede wanderte aus. Es gefiel ihm nicht mehr zu Hause. Weib und Kind, einen 20-jährigen Sohn, ließ er vorerst u Hause, er wollte beide nachholen, wenn er ein neues Heim gefunden hatte. Christian ging auf den Landstraßen nach Osten zu. Der Wind ging mit ihm. Sie hatten sich beide an einer Wegkreuzung getroffen. Der Wind saß auf einem Feld-stein. – „Guten Tag“, sagte Christian und zog den Hut. „Schön Dank“, antwortete der Wind und machte einen Diener, dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel vom Stein. Rasch sprang er wieder auf, errötete und ordnete seinen etwas zerschlissenen Mantel. „Wo willst du denn hin?“ fragte er Christian. – „Ja“, sagte der, „Ick such’ ein’n hübschen Platz für ein Häuschen und eine Mühle.“ „Eine Mühle!“ rief der Wind und schlenkerte mit den Armen, „Eine Mühle! Nicht weit von hier steht eine, die der Besitzer verkaufen will. Komm mit! Aber hast du auch Geld?“ – „Die schwere Masse“ lachte Christian, „könnte zwei kaufen!“ Und sie gingen zu-sammen. Mit schwerem, langsamen Schritte ging Christian, immer hübsch ebenmäßig. Aber der Wind hatte einen Bachstelzenschritt, er hüpfte mitunter auf einem Bein, dann trippelte er ein Stückchen voraus, hielt an, sah sich um, lief wieder zurück, oder wartete, bis sein Kame-rad heran war. „Was läufst du denn so?“ lachte Christian, „hast doch Zeit!“ – „Das liegt so in meiner Natur“, sagte der Wind; dann versuchte er, wie Christian zu schreiten, langsam, vier Schritte bei jedem Atemzug. Dabei fing er an zu singen:

 

Knusper, knusper, kneischen, wer knuspert an meinem Häuschen?

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!

 

 

„Dies ist das neueste Lied auf mich“, sagte er, „ein deutscher Märchendichter hat es aufge-schrieben. Ist es nicht hübsch?“ „Ja“, meinte Christian, „s’ist fein. Aber nu will ick dich mal’n Lied vorsingen!“ und er sang:

 

Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern.

Das muss ein schlechter Müller sein, dem niemals fiel das Wandern ein,  das Wandern, das Wandern.

Vom Winde haben wir’s gelernt, vom Winde.

Hat keine Ruh bei Tag und Nacht, ist stets auf Wanderschaft bedacht, der Wind, der Wind.

Die Steine selbst so schwer sie sind, die Steine, sie tanzen einen muntern Reih’n und wollen immer schneller sein, die Steine, die Steine.

 

„Das ist aber ein schönes Lied“, sagte der Wind, da bin ich ja auch drin, ich komm mir ordentlich was vor. Schlag ein, Bruderherz, topp! Wir wollen Freunde sein!“ – „Topp!“, rief Christian und schlug ein. Bald kamen sie an ein Haus und eine Windmühle. „Dies ist die Mühle“, sagte der Wind. – „Dies?“ meinte Christian, „hm, hm, ja, die is wohl gut instand, ja, die will ick kaufen!“

 

 

Die Mühle dreht sich

 

Die Mühle war von Christian besichtigt worden, er hatte keinen Fehler am Werk gefunden und sie gekauft. Auch das Haus, darin der alte Müller Wischow wohnte, kaufte er, und der alte Müller zog von dannen. Jetzt ließ Meister Christian seine Frau und seinen Sohn nach Krugsdorf kommen. Die Mühle stand auf einer Anhöhe dicht an der brandenburgisch-pommerschen Grenzscheide, einem breiten Graben, und eine Viertelstunde Weges vom Dorfe Krugsdorf ab, gehörte aber zur Gemeinde. Nun wartete der Müller auf den Wind, damit er zum ersten Male in dieser Gegend mahlen könne.

 

Der Wind kam den Hügel herauf. Er war in einer ärgerlichen Stimmung, die Menschen hatten wieder mal auf ihn geschimpft, er konnte es ihnen nicht recht machen. Was stehst du da so steif? schnaubte er die Mühle an, willst mal gefälligst Platz machen? – Ho, ho, wer bist du denn? – Das geht dich gar nichts an. Scher dich weg, sonst blas ich dich um. – Versuch’s doch mal, du Springinsfeld, du Grashopfer, schimpfte die Mühle. – Der Wind berührte einen ihrer Arme, der schwerfällig herabhing, und gab ihm einen Schubs, dass er nach oben flog; aber die Mühle gab ihm mit dem anderen Arm eine Maulschelle. – Jetzt blies der Wind aus vollen Backen ; aber die Mühle holte mit allen vieren zugleich aus, und es regnete Ohrfeigen.

 

Rrrrr! sagte die Welle und drehte sich immer rundherum, ist das aber lustig! – Knickknick-knick machten die Zahnräder, immer schneller, immer schneller. – Bittebittebitte, rief das große Maul des Trichters, gebt mir Futter, bittebittebitte. Die Steine tanzten einen muntern Reihen und sangen:

 

Geschwind! Geschwind! Wie leicht wir sind, wir Steine! Mittanzen wir im muntern Reihn,                                                                                             am allerschnellsten woll’n wir sein, wir Steine, wir Steine!

Hoho! rief Müller Christian, die Mühle dreht sich! Sie dreht sich! Und er lief hinzu und sah sie immerfort an und rief immer wieder und wieder: Sie dreht sich! Sie dreht sich!

In Krugsdorf spielten die Dorfkinder auf der Straße. Auf einmal sahen sie die Mühle, wie sie ihre Flügel herumwirbelte. Die Mühle! Hiefen sie, die Mühle dreht sich! Und im Hut rannten sie nach ihr hin.

 

Das hörten die Leute und sagten: Die Mühle dreht sich, wir wollen mahlen lassen. Sie luden die Kornsäcke auf die Wagen und spannten an. Als sie auf den Mühlenberg kamen, sahen sie Christian mit der Mütze in der Hand dastehen; und ehe sie die Säcke abluden, nahmen sie auch die Mütze ab und standen still, als beteten sie; dann gaben sie Meister Christian die Hände und sagten: Eine schöne Mühle ist das, Ihr habt ein’n gut’n Kauf gemacht – grüß Euch Gott! Dann trugen sie die Säcke hinauf.

 

Die Kinder hatten nun genug gestaunt. Sie hatten es schon so oft gesehen, wenn sich die Mühle dreht, aber sie konnten es immer wieder sehen. Sie fassten sich bei den Händen, und das letzte fasste wieder das erste an; und dann tanzten sie ringelrum und sangen das Mühlen-lied:

Es klappert die Mühle im rauschenden Wind. Klippklapp!

Es mahlet die Mühle die Körner geschwind, klippklapp!

Sie mahlet das Korn zu dem täglichen Brot,

und haben wir Brot, so hat’s keine Not, klppklapp!

 

Nun ist’s mir aber über, schnaufte der Wind, ich hab bald keine Luft mehr. Und er hielt langsam an zu blasen. – Die Mühle lachte: Hab ich dich doch klein gekriegt! – Ich komme morgen wieder, meinte der Wind und hopste den Hügel hinab, rannte über den Acker und verschwand in der Ferne.

 

Rrrrr! sagte die Welle, dann stand sie still, war das aber lustig! – Knickknickknick knackten die Zahnräder, immer langsamer, immer langsamer. – Dankedankedanke stotterte das große Maul des Trichters und kaute den letzten Körnerhappen. Die Steine standen still wie Steine stehen. Aus! stöhnten sie. Es war ganz schön, aber doch mächtig anstrengend. Man kann nicht immer tanzen. Unsereins will auch seine Ruhe haben. Aus!

 

 

Wie Christian lebt und stirbt

 

Das fremde Haus gefiel Christian nicht, er riss es ab und baute ein neues Haus. Über den oberen Rahmen der Haustür schnitzte er die Zeile:

CHR.  H.  TH.    1821

 

Es war ein gutes Leben mit der Mühle. Von weither kamen die Leute und ließen mahlen; von Krugsdorf kamen sie, von Coblentz und von Damm, sie kamen aus Uhlenkrug, Riesenbrück und Rödershorst, von Marienthal kamen sie und Peterswalde. Christian war geachtet und kam zu etwas in Krugsdorf. Und hatte die Mühle sonst alle paar Jahre ihre Besitzer gewechselt, so blieb sie jetzt bis zu ihrem Abriss 1917 beinahe hundert Jahre bei Christians Enkeln und Urenkeln.

 

An seinem 1799 geborenen Sohne Christian Heinrich Ludwig hatte er viel Freude. Der ging ganz in den Fußtapfen seines Vaters, lernte auch Müller und übernahm 1826 die Mühle und zugleich die kleine Wörth, ein paar Morgen Land bei dem Hause. Am 2. April des genannten Jahres erschien Urgroßvater Christian Heinrich Ludwig auf dem zuständigen Patrimonial-gericht Pasewalk, bei dem damals der Graf von Eickstedt-Peterswalde die Gerichtsbarkeit hatte. Chr. H. L. erklärte dort, dass seine Eltern ihm die Mühle überlassen wollten, und soll überhaupt einen ganz gewandten Eindruck gemacht haben. Am 18. April 1826 wurde der Überlassungsvertrag geschlossen. Die alten Thiedes behielten zwei Zimmer links vom Flureingang, die sind noch heute da und gewöhnlich immer die Altenteilstuben.

 

Christian Heinrich hatte noch die Freude, vier Kinder seines Sohnes Christian Heinrich Ludwig als Enkel sein eigen nennen zu können, dann starb er am 6. September 1827. Seine Frau starb am 25. August 1849.

 

 

Christians Grab

 

Christian Heinrich bekam ein schönes Grab in Krugsdorf  auf dem Dorfkirchhof, der um die kleine Kirche herum liegt. Das Grab kam dicht hinter ihrer Rückwand zu liegen, nur ein schmaler Steig trennte es von ihr. Es lag gleichsam an ihrem Schoße. Dem Grabe wurde eine große Steinplatte gesetzt; darauf stand, was so auf Grabsteinen zu stehen pflegt. Mit der Zeit wurde die Schrift unleserlich. Ein Pilzgeflecht setzte sich zwischen den Zeilen fest und ein-grüngelbes, schwammiges Moos überwucherte den Stein. Aber dann kam ein Sturzregen und schwemmte das Moos weg. Das Moos war hartnäckig und versuchte wieder, die Steinfläche zu erobern, wurde aber vom Hagelschlag vertrieben. Aber das Moos fing aufs neue an, den Stein hinauf zu kriechen. Es hielt sich ganz fest und lachte das Wetter aus. Jetzt hatte es geschafft, was es wollte. Und immer unleserlicher wurden die Worte. Ach was! sagte der Regen, verbündete sich mit dem Moose und wischte mit einem nassen Tuch über die Buch-staben. Ich will dir helfen, sagte die Sonne und wischte mit einem trockenen Tuch. So taten sie hundert Jahre; nun ist die Schrift nur noch ganz mühsam zu entziffern.

 

 

Die Leute im Dorfe

 

Christian und der Mond

 

Christian Heinrich Ludwig war ein Mensch, der sein Leben und seine Arbeit, seine Gewohn-heiten und Bedürfnisse noch nach alten, ungeschriebenen Satzungen einrichtete, die sich vom Vater auf den Sohn seit undenklichen Zeiten vererbt hatten, während die Nachbarn in Krugs-dorf  schon anfingen, die überlieferten Sprüche und Regeln mit heimlichem Kopfschütteln und zweifelnden Worten langsam abzutun. So kam es denn, dass Christian unter den Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern allmählich zu einem Sonderling wurde; er setzte seinen Dick-schädel bei sich auf dem Hofe durch unter dem Schwur, nie solle, solange er lebe, die neue Zeit, die Teufelszeit, Eingang zu ihm durch den Hofport finden; und so blieb es Zeit seines Lebens!

 

Fingen sie unten im Dorfe an, in den Sämonaten ihr Getreide und ihre Hackfrüchte zu jeder beliebigen Zeit auszustreuen, nur auf Wind und Wetter achtend, so richtete sich Christian außerdem noch nach den Mondzeiten -, Erbsen und Wicken durfte er zu jeder Mondgestalt säen, aber das Korn warf er bei zunehmendem Monde nur vormittags, bei abnehmendem Monde nur nachmittags aus.

 

Aber es war nach der uralten Volksmundweisheit noch mehr zu unterscheiden: Roggen und Weizen wollten nur bei abnehmendem Monde, Sommerkorn und Märzgerste nur im letzten Mondviertel gesät sein, und Hafer gedieh nach Christians Brauch und Satzung nur, wenn er im März bei abnehmendem Gestirn ausgestreut wurde.

 

Stellten die Nachbarn, um die Vögel von der Saat und vom reifenden Getreide abzuhalten, einfach eine Scheuche in die Äcker, so schützte sich Christian auf eine althergebrachte Weise vor den Raubrittern der Luft: Er ließ den Samen, bevor er ausgesät werden sollte, eine Nacht über unbedeckt unter freiem Himmel stehen, dass die Körner ordentlich vom Tau durchge-feuchtet werden.

 

Das Getreide wuchs bei den Dörflern bloß kniehoch; sie sagten, der fruchtarme Sandboden sei daran schuld -, Christians Korn aber stand Jahr für Jahr mannshoch, und er behauptete, seine Säweise habe das getan; doch mochten die Dorfleute recht haben, wenn sie sagten, Christians schwarzer, fruchtschwerer Ackerboden sei die Ursache.

 

Christian besaß auch gleich den Dörflern viele Morgen Wiesen im Moosbruch hinter dem vorderen Waldstrich, das der westlichste Zipfel des Randowbruches ist. Heuten Christians Nachbarn zu jeder Zeit, wenn nur sonniges Wetter war, so zog Christian mit seinen Leuten nur bei zunehmender Mondzeit ins Heu, weil er glaubte, das Gras habe zu dieser Zeit mehr Saft und müsse folglich ein besseres Futter abgeben. So Du auf Du stand er mit dem Monde.

 

Schweine schlachtete er nur beim ersten zunehmenden Viertel, wenn man ein „Z“ aus dem Mondhornbogen schreiben konnte, nicht ein „A“ wie beim abnehmenden: Christian behaup-tete, das Fleisch halte sich dann frischer.

 

Auch das Wetter konnte er nach den Mondzeiten vorhersagen, er beobachtete diese nach Regeln: Wie das Wetter am vierten und künftigen Tage nach Vollmond ist, so bleibt es den ganzen Monat: Wie die Witterung am vierten Tage nach dem Neumond ist, so bleibt es den ganzen sichtbaren Mond über; erscheint am zunehmenden Monde die obere Spitze dunkler, so gibt es im ersten Viertel Regen, erscheint die Mitte dunkler, regnet es im Vollmonde, er-scheint die untere Spitze dunkler, so verregnet das letzte Viertel.

 

Seinen Kindern machte Christian einmal den Spaß, ihnen am Abend, der den Vollmond bringen musste, den genauen Augenblick der Vollwerdung des Gestirns zu zeigen: Er stellte ein Glas, mit Wasser bis an den Rand gefüllt, draußen auf das Fenstersims, dass der Mond hineinscheinen konnte: und sie beobachteten es stundenlang. Auf einmal, während ein staunendes Ah! den Kindermündern entfloh, hob sich der Wasserspiegel im Glase, und ein paar Tropfen liefen randüber. Christian sagte, in dieser Sekunde sei der Mond ganz voll geworden.

 

 

Die weise Frau

 

Unten im Dorfe, auf dem Gute des Grafen Eickstedt, lebte eine alte Frau, die so alt war, dass sie ihre Jahre selber nicht mehr wusste. Sie hatte ihr Leben meist im Schweinestall verbracht. Die Schweine aufzuziehen und zu mästen, war ihr Dienst gewesen, den sie so gut versehen hatte, dass sie jetzt das Gnadenbrot bekam. Die Leute im Dorf achteten sie sehr und sahen mit scheuer Bewunderung zu ihr auf. Sie verstand sich nämlich auf die Heilung von allerlei bösen Beschwerden, konnte das Böten der Rose im Gesicht, wusste allerlei Sympathiemittel, Tränk-lein und Kräutlein. Obwohl die Leute auf manche Gewohnheiten, die ihre Eltern noch fleißig betrieben hatten, nur noch mit aufgeklärtem Verstande sahen, gaben sie doch Christian Hein-rich Ludwig droben in der Mühle recht, wenn er sagte, sie sei eine weise Frau. Und was konnte und wusste sie auch alles. Sie hatte Kunststücke, um widerwillige Haustiere an den Herrn zu gewöhnen. Sie wusste Mittel, die Pferde und Rinder vor den Fliegen und Bremsen zu bewahren. Um Marder und Füchse von den Taubenschlägen und Hühnerställen fernzu-halten, empfahl sie, Schweineknochen mit etwas Salbeikraut zusammen zu sieden und danach vor die Eingänge zu legen. Frische Wunden heilte sie mit gekochtem Samen vom Wasser-wegerich, der dann darüber gelegt wurde. Sie wusste Hafergrützbrühe gegen Heiserkeit, gegen Brandwunden den Saft von Ahornbäumen, Mohnsamen gegen Schlaflosigkeit, Bienen-stiche gegen den Rheumatismus, wusste Mittel gegen Zahnschmerzen, gegen den Biss toller Hunde, gegen das sogenannte Gerstenkorn im Auge, gegen Albdrücken, gegen Hühneraugen – und viele, viele andere Dinge. Gegen Warzen wusste sie mehrere Sympathiemittel: Sie bestrich sie bei abnehmendem Monde mit frischem Speck, vergrub diesen dann in die Erde und sagte, wenn dieser verfault sei, vergingen auch die Warzen; oder sie kerbte eine Zwiebel kreuzweise, rieb damit die Warzen ein und warf dann die Zwiebel ins Feuer; oder sie band eine kleine Kupfermünze fest darüber. Wenn jemand dergleichen Übel hatte, so ging er zur weisen Frau, sie half ihm, und es kam billiger als Arzt und Apotheke. Meistens nahm sie Lebensmittel dafür. Ganz armen Leuten tat sie ihre Künste umsonst.

 

 

Das „Schütten“

 

Meister Christian hätte noch viele Jahre ganz glücklich leben können, wenn sich nicht lang-sam ein körperliches Übel eingestellt hätte, dem er keinen Namen zu geben vermochte; zum Arzt ging er nicht, denn er hielt Ärzte für Mörder, da sie, seiner Meinung nach, unfähig zu einer ausreichenden Heilung seien und daher das Schlimme nur noch schlimmer machten; um so mehr vertraute er alten, überlieferten Mitteln und Verfahren aus dem Volksleben, von denen die besonders schwierigen Vorrichtungen und Anwendungen, Rezepte und Künste nur von weisen Frauen und Männern gepflegt und gehütet wurden. Seine Krankheit hielt Christian für eine Art Rheumatismus, da ihm, besonders beim Umgang mit den schweren Säcken in seinem Berufe, oder bei sonstiger schwerer körperlicher Arbeit, eine mehr und mehr zunehmende Steifheit im Kreuz das Leben recht sauer machte. Einmal klagte er sein Leid einem in seinen Diensten lebenden Knechte, der darauf eine höchst zufriedene Miene aufsetzte und zum Meister sagte, das Übel sei wohl ein Hexenschuss und habe keine größere Bedeutung, es sei indessen nur durch das „Schütten“ wegzubringen, was er, der Knecht, ganz besonders, ja geradezu meisterhaft verstehe, der Meister solle sich ihm nur ruhig anvertrauen.

Der Müllermeister, froh, einen nichtstudierten Menschen gefunden zu haben, auch wohl zu-frieden, dass der Wunderdoktor mit einer kleineren Summe schon einverstanden war, befahl

 

ihm, sogleich mit der Anwendung seines Verfahrens zu beginnen. Sie stellten sich mit ihren Rücken fest zusammen und hakten ihre Arme nach rückwärts ineinander, dann bückte sich der „Doktor“, so dass sein Patient lang auf seinem Rücken ausgestreckt lag und ihm das Kreuz gehörig durchgedrückt wurde; diese Bewegungen wiederholte der Knecht mehrere Male, wobei er den Meister Christian möglichst derbe schüttelte. Aber auf einmal gab es einen dumpfen Knacks – der erschrockene „Doktor“ stellte seinen Kranken geschwind auf die Füße und ließ ihn los – er hatte sich aber kaum umgedreht, um zu sehen, was denn sei, als Christians Körper auch schon mit schwerem Fall auf den Boden schlug – er hatte sich beim „Schütten“ das Kreuz durchgebrochen und ist im Augenblick tot gewesen.

 

 

Die Kirche

 

Die Kirche war schon sehr alt, als Christian Heinrich Ludwig starb. Sie wusste selbst nicht mehr, wann ihr Geburtstag war; sie hatte soviel gesehen und erlebt, dass sie vergessen hatte, wann sie gebaut worden war. Alles andere aber vergaß sie nicht. Sie bewahrte noch alle Predigten auf, die die verschiedenen Pfarrer in ihrer Stille gesprochen hatten, bloß die schlechten, oberflächlichen Worte hatte sie vergessen. Sie kannte alle Gesänge, die im Gesangbuch stehen; manchmal, wenn sie allein war, summte sie die liebsten Melodien sich vor; darum wird uns immer so feierlich, wenn wir die Kirche betreten. Auch die Leute, die in den Jahrzehnten bei ihr waren, wusste sie alle noch: alle Menschen aus dem Dorfe kannte sie, sie kannte sie als Kinder, Erwachsene und Greise. Manche kamen oft zu ihr, manche weniger oft, andere blieben ganz aus, sie waren wohl verzogen; aber die Kirche vergaß keinen von ihnen, hin und wieder dachte sie an jeden, ob er wohl noch lebe. Lange Zeit wurden die Toten bei ihr auf dem Kirchhof beerdigt, und sie sah, wie die Gräber verfielen und vergessen wurden, wie die Kreuze verrosteten und die Steine alterskrank aussahen. Viel, viel später kam die Sitte auf, die Toten auf  einen neu angelegten Friedhof im Walde zu tragen; die Kirche grämte sich erst ein bisschen darüber; aber sie konnte doch wenigstens allen zum ewigen Abschied ein inniges Glockengeläut auf den letzten Weg mitgeben.

 

Ja, sie war schon sehr alt, die Kirche, und allmählich fühlte sie das auch. Obwohl sie so klein war, sah sie doch immer ehrwürdiger aus. Es standen einige Fliedersträucher und ein paar Silberpappeln um sie herum. Sie hatte die Bäume wachsen gesehen, etliche wuchsen ihr sogar über das Dach. Mitunter sprach sie mit den Bäumen von der früheren Zeit. Am liebsten mochte sie die Kinder leiden, wenn sie in ihrem Schatten spielten Ringelringelreihen, Greif-mich und Verstecken. Sie kamen manchmal über die niedrige Kirchhofsmauer aus Feld-steinen gestiegen, weil sie das Port verschlossen fanden, zuerst grauelten sie sich ein bisschen vor den Gräbern, aber dann vergaßen sie die Scheu und tanzten einen Ringelreihen.

 

Allmählich wurde es Abend. Die Sonne ging unter und blitzte goldrot an den Fensterscheiben der Kirche. Die Kinder sahen es an und Julius sagte leise: Jetzt ist der liebe Gott dadrin. Er hat ein rotes und goldenes Kleid an, das scheint durch die Fenster. Und die Kinder schauten stau-nend und ein wenig ängstlich. – Dann verschwand der Glanz langsam und  die Scheiben wurden dunkel. – Jetzt ist der liebe Gott wieder in den Himmel gezogen, sagten die Kinder. Aus den Kirchhofsecken krochen die Schatten. Den Kindern wurde unheimlich zumute. Martin sagte: Um Mitternacht geht ein schwarzer Kater mit feurigen Augen auf der Kirch-hofsmauer entlang. – Ja, sagte Hannchen, und unter der großen Pappel dort wohnt der Nachtmahr, der kommt nachts zu den Leuten ins Bett, wenn sie schlafen, und drückt ihnen die Kehle zu. – Hu, flüsterte Karl, und von zwölf bis eins in der Nacht kommen die Toten aus den

 

Gräbern und tanzen um die Grabkreuze. – Hu, riefen die Kinder, sprangen über die Kirchhofs-mauer und liefen nach Hause.

 

Manchmal nickte die Kirche ein bisschen ein: das kommt so, wenn man alt wird. Wenn der Mond über das Dach rollte, wachte sie wieder auf, und der krumme eiserne Hahn auf dem Dachreiter schwatzte ein wenig mit dem Gestirn. Dann druselte sie wieder ein und wachte am Sonntag auf und läutete und sang. Dann nusselte sie wieder ein bisschen ein und ließ sich vom Wind wecken. Nachher schlief sie wieder und wachte auf, sie wusste nicht wovon. Es war Nacht, und ein stiller Ton summte um sie her. Sie wusste nicht, war es das Atmen der Dunkel-heit oder kam es von dem Scheinen der ewigen Sterne.

 

 

Die Großmütter

 

Urgroßmutter Friederika

 

Christian Heinrich Ludwig war mit 34 Jahren jung im Jahre 1833 gestorben und hinterließ seine Frau mit sieben Kindern. Nun trat die Sorge auf, die Mühle sowie das kleine Grundstück bei der Familie zu halten. Diese schwere Aufgabe trat Frau Friederika mit Mut an. Sie stand den Knechten und Mägden vor und half selber mit, rastlos, vom Morgen bis zum Abend, im Hause, im Stall, auf dem Felde. Sie ließ sich nicht unterkriegen. Die Mühle versah ein tüch-tiger Müllergesell, bis ihre Söhne, die fast alle Müller lernten, soweit waren, selbst mit anzu-packen. Der Müllergeselle Julius Thiede sollte später die Mühle haben, während seine zwei älteren Brüder den Müllermeister machten und sich an anderen Orten selbstständig nieder-ließen. Ein weiterer Bruder ging zum Militär und wurde Unteroffizier in Friedeberg. Ein anderer wurde Landschullehrer. Und der sechste Bruder war auch Müllergeselle und arbeitete gleich Julius in der väterlichen Mühle. Das Grundstück und die Mühle bekamen keine Schul-den. Im Gegenteil: Es war ein Überschuss von 17 000 Talern vorhanden, als es im Jahre 1859 zur Erbteilung kam. Das gesamte Grundstück bekam Julius Thiede übereignet. Das übrige Geld wurde an die Mutter und Geschwister verteilt. Eine Schwester hatte einen Mühlenbe-sitzer in Dedelow bei Prenzlau geheiratet. Frau Friederika machte sich bei der Erbteilung noch folgendes zu ihren persönlichen Bedürfnissen aus:

 

  1. Freie Wohnung und Feuerung und Heizung
  2. Sechs Scheffel Roggen jährlich
  3. Einen halben Wispel Speisekartoffeln jährlich
  4. Den dritten Teil des jährlichen Obstgewinnes
  5. Die Hälfte des jährlichen Ertrages der Bienenzucht
  6. Eine von ihr anzuschaffende Kuh, welche sie auch erhalten musste, frei gefüttert und geweidet, oder dafür ein halbes Quart Milch täglich

 

Die Erbteilung kam unter vollstem Einverständnis aller Beteiligten zustande, und kein Schatten trübte das Verhältnis der Geschwister untereinander, wie das sonst bei Erbteilungen üblich ist.

 

Julius und Karoline

 

Julius Thiede machte seinen Meister und heiratete. Seine Mutter lebte seit der Erbteilung noch

29 Jahre mit ihm zusammen. Friederika starb, 87 Jahre alt im Jahre 1888. Julius lebte mit seiner Frau Karoline Thiede geb. Grotkopf recht glücklich. Sie hatten dreizehn Kinder, von denen ihnen sechs durch den Tod schon frühzeitig entrissen wurden. 1895 starb Julius Thiede plötzlich am Schlage. Sein Sohn Karl übernahm das Grundstück, Mühle und Land. Er hielt alles in Ordnung und verwaltet es heute noch. Großmutter Karoline lebte bis zum 3. Mai 1926 und hatte die Freude, in ihren Enkelkindern den Fortbestand des Geschlechts gesichert zu sehen. Sie stand im Sturm des ersten Viertels des neuen Jahrhunderts  wie eine Bildsäule aus alter, überkommener Zeit; noch lebend schon fast den Ahnen gehörend, mit denen sie in ihren altersstillen Stunden am Sonntage sprach, als sähe sie die Toten vor sich, lebend und han-delnd. Mit achtzig Jahren buddelte sie noch Kartoffeln auf dem Felde und war den anderen stets voran. Mit dreiundachtzig Jahren wagte sie sich noch in das Getriebe der Millionenstadt Berlin zu ihrer Tochter. So war sie, ließ sich nicht zermürben vom Alter, bis sie der Tod zerbrach.

 

Großmutters Sonntag

 

Es ist Sonntag nachmittag; Großmutter ist aus der Kirche gekommen und sitzt nun in ihrem Zimmer am Fenster, hat eine große Brille auf der Nase und guckt in ein Buch, das auf ihrem Schoße liegt. Es heißt: „Schubert’s Predigten“. Das Buch ist ganz in schwarzes Leder gebun-den, und die großen deutschen Lettern der Schrift sind golden in das Leder eingedruckt. Das Gold ist schon ein bisschen verblichen. Das Buch mag schon sehr alt sein, vielleicht ist es so alt wie das Haus. Die Blätter des Buches sind ganz dünn geworden, sehen gelblich aus, und wenn man das Buch rasch durchblättert, so gibt es einen zarten, knisternden Ton wie von Silberpapier.

 

Ja, das Buch ist wohl sehr alt, manche Geschlechter mögen darin gelesen haben. Es steht keine Jahreszahl darin, aber es ist gedruckt worden, als man noch die Wörter „bei“ und „seid“   mit „y“ schrieb, „eilfe“ statt „elf“ sagte. „Härtigkeit“ für „Härte“ setzte, „gegläubet“ für „geglaubt“. Das ist schon hundert Jahre her. An dem Buche ist ein Schloss aus Messing. Großmutter hat sich als Lesezeichen ein Gräserchen von dem Felde hineingelegt, es sieht noch ganz grün aus, bloß so trocken ist es schon geworden. Noch ein anderes Lesezeichen bewahren die Blätter auf; ein feinlöchriges, goldenes Tüchlein, auf dem mit schwarzem Garn gestickt steht: Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

 

Das Fenster guckt nach Süden, und ein heller Sonnenschein liegt auf den Dielen. An den Wänden hingen die Bilder. Alles, was sie darstellen, steht in irgendeiner Beziehung zu dem Hause. Hier ist ein Hochzeitsbild, da der Großvater, dort Geschwister, drüber dieses und jenes Kind und Kindeskind. Tote und Lebende blicken aus den Rahmen. Manchmal schaut die Großmutter von dem Buche auf und nickt zu den Bildern hinüber. Auf Großmutters Bett liegt eine grüne Steppdecke. Ein paar Plüschsessel stehen da und ein Plüschsofa. Es ist grüner Plüsch. Grünmustriger Teppich liegt unter dem eichenen Tisch, auf dem eine grüne Decke liegt. Grüngoldene Tapete schimmert an den Wänden. Dort hängt auch ein Spiegel mit ovalem Rahmen, kunstvoll geschnörkelt. In einer Ecke steht ein Glasspind, in dem die bunten Tassen, Teller und Kannen stehen.

Großmutter ist beim Lesen ein bisschen eingenickt. Langsam tickt der Regulator von der Wand. Er tickt ganz sonderlich, so ganz anders als andere Uhren, er tickt so feierlich und so traulich. Jetzt hebt er an zu schlagen, drei Goldklänge zittern durch den Raum und – Großmutter wacht davon auf. Wie sie die Augen öffnet, fällt ihr Blick gerade auf den Silberhochzeitskranz, der in einem vertieften, gehäuseartigen Rahmen unter Glas als ein Stück Erinnerung an den frohernsten Tag ihres Lebens sie anlächelt und – Großmutter lächelt auch, und so lächeln sie sich beide an, und die Sonne lächelt auch. Ja, denkt die Großmutter, als du noch grün warst, ja, ja … und die Zeit steht einen Augenblick still. Nachher druselt Groß-mutter wieder ein bisschen ein; auf ihrem zerfurchten Gesicht ist das Lächeln stehen geblieben.

 

 

Großmutter geht zu den Ahnen

 

Großmutter bekam einen schönen Sarg; er war einfach wie ihr Leben und tiefbraun wie die Erdklause, zu der sie getragen wurde. Die Tote lag in ihrer Stube aufgebahrt und ihre ver-wandten Menschen standen um den Sarg. In einem größeren Kreise standen Leute aus dem Dorfe und Kinder.

 

Der Pastor Knaack aus Coblentz trat herein und sah sie an. Er rührte an ihrer Hand und begann zu sprechen: Großmutter Karoline Thiede, geboren am 12. Juli 1840, gestorben am   3. Mai 1926 – um Deinen Sarg stehen sechsundachtzig Jahre. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Dein Leben ist köst-lich gewesen, denn es ist Mühe und Arbeit gewesen. Du hast dein Pfund verwaltet, das Dir anvertraut worden, und Gott wird sagen: Du guter und getreuer Knecht! Schmerzlich früh hast Du Deinen geliebten Gatten hingeben müssen dem grausamen Sensenmann. Dreizehn Kinder hast Du geboren; sechs entriss Dir der Tod. Gehe ihnen nun nach, die Dir voraufgingen, und vergiss sie nicht, wenn Du sie wiederschaust. Großmutter, wir beugen uns vor Dir, vor Deinem Leben und vor Deinem Abschied. Amen.

 

Und sie traten allesamt herbei und berührten ihre Hände. Zuletzt kam auch ein Sonnenstrahl und streichelte darüber hin. Dann geschah etwas, was niemand sah und hörte: Die Bilder an der Wand nickten stumm zum Sarge hinüber, und um die Dinge des Raumes glitt es wie ein schmerzlicher Zug. Die Uhr schwieg traurig, und der Spiegel hüllte sich tiefer in das weiße Laken, das man ihm vorgehängt hatte.

 

Der geschlossene Sarg wurde über die Türschwelle getragen und dann über die Hausschwelle. Und hinter ihm, zwischen dem Gefolge, ging unsichtbar, was mit der Toten gestorben war: ein blondes Kind, eine blühende Braut und eine blasse Mutter. Der alte Kastanienbaum rauschte, als man den Sarg vorübertrug, und das Hofport grüßte mit einem leisen Laut. Der Sarg wurde auf den Trauerwagen gehoben, dann zogen ihn die traurigen Pferde Großmutters Erstlingsweg hinunter, der nun ihr letzter war. Die Bäume neigten sich stumm und winkten.

 

Als der Sarg in die Grube hinunter gelassen war, warfen ihm alle drei Handvoll Erde nach. Da traten auch die drei Unsichtbaren heran und taten also. Warf das Kind ein Händlein Erde hinab und weinte: Glück ist Erde! – Streute die Braut ein Erdlein hinunter und schluchzte: Liebe ist Erde! – Warf die Mutter rasch die dritte Handvoll hinterher und lächelte:  Sorge ist Erde

 

 

Kurze Nachschau 1935

 

Im Jahre 1917, im Notjahr, riss der Müller die Mühle ab und wandte sich ganz der Landwirt-schaft zu. Die Mühle gab Holz für den Herd, für den Ofen. Der Müller hatte in den letzten Jahren bloß noch für sich selber gemahlen. Zuletzt stand die Mühle ganz still. Der Wind hatte ein paar ihrer altersmorschen Flügel zerbrochen. Im Getriebe bohrte der Wurm herum. Feines hölzernes Mehl rieselte unablässig auf den Boden. Das Räderwerk verrostete. In der zerfalle-nen Mühle hauste ungestört eine alte Eule. Die Mühlensteine bloß waren noch ungebrochene Kraft. Nach dem Abriss kam der eine als Trittstein vor die Haustür, der andere blieb auf dem Mühlenplatze aufrecht stehen, ein letzter Zeuge versunkener Mühlenherrlichkeit. Ob die alten Geister, von denen das Volk erzählt, dass sie einmal in der Mühle gewohnt hätten? Der Kobold? Der Nachtmahr? Und wohin mag die Eule gekommen sein? Die letzten, die Ur- Urenkel, hegten eine Verehrung für die Mühle, für ihre Bewohner, für die Eule, die Fleder-mäuse, die abends bei Dunkelheit dort herumschwirrten. Die Mühle, der Spielfreund ihrer Kindheit, ist nicht mehr. Bloß der graue Stein steht noch da und träumt von der alten Zeit. Sie selber sind längst in alle vier Winde ausgezogen. Unmerklich rinnt die Zeit. Aber sie rinnt. Der alte Weidenweg verändert sich immer mehr. Ein morscher Baum nach dem anderen stürzt. Von den „twe Widen“ steht jetzt auch die letzte Weide nicht mehr. Die Landschaft wandelt sich. Unerschüttert aber steht der Hof. Er blüht. Nun ist er ein Erbhof des Dritten Reiches geworden. Der jüngste Enkel einer langen Reihe von Blut-Trägern steht in den Reihen des Jung-Bauerntums, ein Aufrechter, eine Hoffnung, dass er weiterführe, was seine Vordern begonnen und erhalten; ein geachtetes Geschlecht, Blut und Boden! Auch der alte Kastanienbaum auf dem Hofe, der den Toten den letzten Gruß rauscht, steht noch da, prahlt im Juni mit kerzenhellen Blüten und bewahrt getreulich, was die Schwalbe singt, die den Herbst und Frühling bringt.

Uns allen aber verhelfe der Herr, daran uns am meisten gelegen, zu einem seligen

 

E n d e !